Gidon Lev

Konzentrationslager Theresienstadt, Holocaustüberlebender

“Die Vergangenheit ist nie wirklich Vergangenheit, es sei denn, wir haben aus ihr gelernt.”

„Mit drei Jahren wurde ich zu einem Menschen ohne Land – zu einem Flüchtling. Das war am 4. Juni 1938. Großbritannien (und andere Länder) erlaubten Hitler, das Sudetenland zu besetzen – einen Teil der ehemaligen Tschechoslowakei, der an Ostdeutschland grenzte. Damit sollte ein Krieg verhindert werden. Das war ein politisch dummer Schachzug, der scheiterte. Die Juden des Sudetenlandes, zu denen meine Eltern, meine Großeltern väterlicherseits und ich gehörten, flohen ins, wie wir hofften, sichere Prag. Ich erinnere mich, wie wir spät in der Nacht unzählige Koffer zum Bahnhof schleppten. Meine Eltern hatten Angst. Ich erinnere mich an mein schönes neues rotes Dreirad mit schwarzem Lenker. Das hatte ich gerade zu meinem Geburtstag bekommen. Ich durfte es nicht mitnehmen. Ich weinte bitterlich. Das war für mich kleines Kind das Flüchtlingsdasein. Wir lebten zusammen mit meinen Großeltern in einer kleinen Wohnung im Zentrum von Prag und fragten uns, wie wir das alles bewältigen sollten.

Es dauerte nur wenige Monate, bis die Deutschen das gesamte Land erobert hatten und es in ein deutsches Protektorat verwandelten. Die Prager Juden wurden in das Konzentrationslager Theresienstadt gebracht, das als Verkehrsknotenpunkt zu den Vernichtungslagern diente. Bei Kriegsende hatten von 26 Familienmitgliedern nur meine Mutter und ich überlebt. Nach der Befreiung kehrten wir nach Karlovy Vary (Karlsbad) zurück. Dort lebten wir zusammen mit Freunden, die ebenfalls wie durch ein Wunder am Leben geblieben waren. Aber für mich fühlte es sich nie wieder wie Zuhause an. Einmal wurde ich von einem Mitschüler als „schmutziger Jude“ beschimpft. Zwei Jahre später fand und förderte eine in Brooklyn lebende Großtante meine Mutter und mich. Als jüdische Flüchtlinge wanderten wir nach Amerika aus. Ein Jahr später durften wir nach Toronto, Kanada ziehen. Wieder war alles fremd und anders. Wir waren und blieben Flüchtlinge, bis ich 1959 in das einzige Land auswanderte, das mich nicht als Flüchtling, sondern als wahren Bürger des Landes aufnahm. Zum ersten Mal seit mehr als 25 Jahren lebte ich erhobenen Hauptes!

In der Welt von heute gibt es wieder viele Flüchtlinge. Das ist tragisch. Es bricht mir das Herz. So viele Israelis sind einmal Flüchtlinge gewesen. Wir sollten alle Menschen respektieren, egal, woher sie kommen, welche Hautfarbe, frühere Staatsangehörigkeit oder Religion sie haben. Wir sollten dies mit Einfühlungsvermögen, Freundlichkeit und Verständnis tun, selbst wenn es nicht immer leichtfällt oder einfach ist. Der Hass des „anderen“ ist selbstzerstörerisch, kann zu menschenverachtendem Verhalten und Völkermord führen. Ich kann das bezeugen! Wir müssen die Lehren, die wir aus dem Holocaust gezogen haben, heute umsetzen. Die Vergangenheit ist nie wirklich Vergangenheit, es sei denn, wir haben aus ihr gelernt. Ich bin mir nicht sicher, ob dem so ist.”

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