Liora Danieli

Tochter von Zippora Singer, einer Auschwitz-Überlebenden des Holocaust

 Zweite Generation – Kinder von Holocaust-Überlebenden

“Ich bin Anfang der 60er Jahre in Netanya aufgewachsen, als einziges Kind von zwei Holocaust-Überlebenden, denen es gelungen war, ihren Traum von der Einwanderung nach Israel zu verwirklichen. Allerdings fühlte ich mich in vieler Hinsicht so, als wäre ich im Litauen der 30er Jahre.

In meiner Kindheit waren Holocaustüberlebende etwas Beschämendes. Niemand sprach darüber, was „dort“ passiert war. Erinnerungen wurden verdrängt. Jeder hatte seine eigenen Probleme. Niemand wollte zuhören. Die Atmosphäre bei uns zu Hause war immer trist. Es gab keinen Grund zur Freude, nicht einmal an Geburtstagen. An Feiertagen füllte sich das Haus zwar mit Gästen, doch konnten sie die Abwesenheit nicht kompensieren. Ich habe nie die Worte Oma, Opa, Tante, Onkel gesagt. So etwas gab es in meinem Leben nicht. Die wahre Bedeutung von Familie, von familiärer Wärme und Geborgenheit begriff ich erst nach meiner Heirat und der Geburt meiner Kinder.

Das Leben bei uns zu Hause unterlag dem eisernen Gebot meines Vaters, der von mir seit dem Alter von sieben Jahren verlangte, Mutter NIEMALS zu verärgern. „Deine Mutter hat ein hartes Leben gehabt. Du musst immer tun, worum sie dich bittet…“

Meine Kindheit in „Litauen“ unterlag strengen Regeln und Anforderungen, die nichts mit der israelischen Gesellschaft um mich herum zu tun hatten. Meine Rolle bestand darin, die Leere zu füllen und das Leben an dem Punkt fortzusetzen, an dem das Leben meiner Familie – einer Familie, die ich nicht gekannt habe – aufgehört hatte. Es gab unzählige Verbote:

Weine nicht! Verglichen mit dem Leid der Ermordeten, sind deine Beschwerden winzig. Echten Schmerz haben die Ermordeten erlitten!

Hör auf, Angst zu haben! Du wirst von niemandem verfolgt.

Beschwere dich nicht. Hege keinen Neid.

Mach deine Zimmertür nie zu.

Mit Erwachsenen spricht man nur, wenn man gefragt wird.

Lass kein Essen auf dem Teller liegen. Nörgle nicht, dass das Essen „nicht schmeckt“.  Essen wirft man nicht weg.

Du bekommst keine Süßigkeiten! Ein Stück Schokolade am Tag war mir erlaubt. Bei uns zu Hause gab es durchaus Bonbons. Aber die waren Kindern bestimmt, „die sie verdient, die ein hartes Leben gehabt haben“ und für Gäste.

Puppen und Spielzeug waren Luxus. Meine Eltern gaben mir nur eine Puppe zum Spielen. Spielsachen, die ich geschenkt bekommen hatte, gaben sie trotz meiner Proteste anderen, „bedürftigeren“ Kindern, die sie dringender brauchten.

Ich durfte keine Geheimnisse haben und besaß kein Recht auf Privatsphäre. Meine Schubladen und meine Schultasche wurden regelmäßig durchsucht. Ich war gezwungen, Dinge gut zu verstecken – einschließlich Vaters Familienfotos, die ich erst vor zwei Jahren aus ihrem Versteck geholt hatte. Als Kind sollte ich mich wie ein tadelloser Erwachsener verhalten. Ich habe nie verstanden, warum ich nicht einfach ein Kind sein durfte wie alle anderen. Das hat mir niemand erklärt.

Meine Mutter hatte viele Jahre nicht mehr über den Holocaust gesprochen, außer über die Bedeutung von Brot in den Konzentrationslagern. Dort hatte sie immer eine Scheibe Trockenbrot an einem Faden um den Hals getragen. Sie wollte etwas zu essen haben, wenn „die Zeiten wirklich schlimm“ würden. Teil dieser Geschichte war immer auch eine fürchterlich plastische Darstellung des Brotessens. Ich habe es unzählige Male gehört. Immer dieselben Worte und Gesten, die ich nie vergessen werde.

Jeden Tag wurde ich zum Bäcker geschickt, um ein halbes Schwarzbrot zu kaufen, das für den Tag danach aufbewahrt wurde. Wir aßen immer das Brot vom Vortag, weil man Hunger besser mit trockenem als mit frischem Brot stillt… Brot ist heilig, wurde mir eingebläut. Brot wird niemals weggeworfen. Daran halte ich mich bis heute.

Zweimal täglich hörten wir die Suchmeldungen im Radio. Auf dem Gerät lagen Stift und Papier für den Fall, dass wir jemand finden oder von einem geliebten Menschen oder einem Bekannten aus den Lagern etwas hören würden. Meine Eltern wussten, dass niemand aus ihrer Familie überlebt hatte. Aber sie konnten es nicht lassen, die Suchmeldungen zu hören und wie besessen in alten Wunden zu wühlen.

Lehrer haben immer Recht! Diese Regel galt für die Schule. Schau dir dein eigenes Verhalten an. Bestimmt hast du etwas falsch gemacht. Meine Eltern haben mich nie unterstützt. Dinge wurden immer in meiner Anwesenheit und in Anwesenheit meiner Lehrer gesagt. Meine Eltern meinten immer, ich würde mich nicht genug anstrengen. Sätze wie „Du bist ungehorsam“ und „Du bist undiszipliniert“ haben mich jahrelang verfolgt. Ich musste mich mit den Schatten ihrer jüngeren Schwestern und Brüder messen.

Mutter ist der optimistischste Mensch, den ich kenne. Selbst in schlimmsten Zeiten hatte sie geglaubt, dass sie überleben und die Niederlage der Deutschen erleben würde. Und das hat sie dann ja auch! Sie betonte immer, dass die Deutschen nicht alle gleich seien.  Selbst inmitten all des Bösen hätte es gute Menschen gegeben, die ihr geholfen hatten. Vielleicht behandelt sie deshalb jeden Mitmenschen immer so respektvoll.

In meiner Klasse waren noch andere Kinder wie ich, die der „zweiten Generation“ angehörten. Wir sprachen nie über unsere Eltern und unser Zuhause. Jeder von uns ist im Schatten von Geheimnissen und Familienschmerz aufgewachsen. Wir haben nie ein anderes Leben gekannt. Wir hatten keine Ahnung, dass das Leben auch unbeschwert und seelisch gesünder sein kann. Auch wir waren Überlebende. Zum Glück kannten wir als Kinder keine andere Realität. Ich habe ich geheiratet, drei Kinder und fünf Enkelkinder.

Ich habe sie immer unterstützt und ihnen so viel wie möglich gegeben – Dinge, die mir vorenthalten wurden. Ihre Kindheit unterscheidet sich merklich von meiner. Ich bin mir sicher, dass sie schöner und glücklicher gewesen ist.”

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