Yehoshua Sobol

Dramatiker, Autor und Regisseur

“Das Stück „Ghetto“ entstand auf Anregung eines guten Freunds. Ich sollte ein Drehbuch fürs Fernsehen über die Untergrundaktivitäten der Jugendbewegungen in den Ghettos schreiben. Bei meinen Recherchen fand ich heraus, dass es im Ghetto von Vilnius ein Theater gegeben hatte, dessen Stücke von im Ghetto lebenden Schauspielern aufgeführt wurden. Diese Entdeckung faszinierte mich. Ich interviewte eine Überlebende des Ghettos von Vilnius zur Bedeutung des Theaters. Nach einem zermürbenden Arbeitstag im Ghetto, erzählte sie mir, bot ihnen das Theater die Möglichkeit, ihre besten Kleider anzuziehen und sich ein Theaterstück anzusehen. Damit klammerten sie sich an eine andere, an eine zurechnungsfähige Welt, obwohl alles um sie herum zusammenbrach.

Beim Schreiben des Stücks interessierte mich insbesondere die Bedeutung, die dem Theater in einer von Vernichtung bedrohten, menschlichen Gemeinschaft zukam. Mit dem Theater im Ghetto wurden die menschlichen Werte einer ganzen Gemeinde bewahrt. Theater kann man mit minimalen Mitteln machen. Der menschliche Körper und die menschliche Stimme verwandeln die Rohmaterialien der Realität in Kunst. Sie verleihen den Menschen Kraft, den Bestrebungen zu widerstehen, die sie zermalmen und dazu bringen wollen, sich selbst als Bestien zu betrachten. Angesichts dieser aufoktroyierten Verrohung ermöglichte ihnen das Theater, an ihrer Menschlichkeit festzuhalten. Zu den Hauptbotschaften des Stücks gehört der immense Wert, den das Leben trotz einer so starken Präsenz des Todes hat. Ein Theater im Herzen der Finsternis trotzt dem Tod. Mit ihm weigerten sich die Menschen, der erdrückenden Macht des Todes zu erliegen. Als ob sie sagen würden, solange wir nicht tot sind, werden wir das Leben in vollen Zügen leben.

Das Stück wirft die akute, moralische Frage nach der Zusammenarbeit mit den Nazis auf. Der Protagonist Jacob Gens, Leiter der jüdischen Polizei und Vorsitzender des Judenrats im Ghetto von Wilna, hielt eine gewisse Zusammenarbeit mit den Nazis für notwendig. Bis zur Befreiung von Wilna durch die Rote Armee versuchte er, kostbare Zeit zu gewinnen und möglichst viele jüdische Leben zu retten. Als die Nazis die Herausgabe von Kindern verlangten, überredete sie Gens mit seiner starken Persönlichkeit, statt der Kinder ältere Menschen zu nehmen. Die Kinder würden heranwachsen, argumentierte er, und könnten dem Reich als effiziente Arbeitskräfte dienen. Da das Deutsche Reich tausend Jahre bestehen sollte, lohne es sich, statt der jungen Menschen die Alten zu deportieren. Damit war Gens Teil einer Realität jenseits moralischer Erwägungen, wusste jedoch sehr wohl, dass ein solches Kalkül unmoralisch war. Das jüdische Volk kämpfte um sein biologisches Fortbestehen, und in Kriegszeiten ist Moral zweitrangig. An erster Stelle steht der Sieg über den Tyrannen und das Ende des Völkermords. 

Ist eine Kooperation mit den Nazis erlaubt? Um diese tiefgründige Frage geht es in dem Stück. Wie reagieren Menschen, wenn sie sich zwischen zwei Übeln entscheiden müssen? Dürfen ältere Menschen für Kinder geopfert werden? Wäre man imstande, das Leben anderer zu opfern, um das eigene zu retten? Jeder Ghettobewohner stand diesem Dilemma gegenüber. Mit jeder Flucht weihte man den Rest seiner Familie oder die Mitglieder seiner Arbeitskompanie dem Untergang. Der Preis war klar. Ich habe mit Menschen gesprochen, die diese Erfahrung gemacht haben. Sie haben die Last der Schuld ein Leben lang mit sich getragen.

Wie würde ich in einer ähnlichen Situation entscheiden? Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Jede dieser Entscheidungen wurde in einem bestimmten schicksalhaften Moment unter einzigartigen Umständen getroffen. Deshalb lassen sich Personen und deren Entscheidungen nicht mit regulären Rechtsmitteln bestrafen. In dieser von den Nazis herbeigeführten, derart radikalen und existenziellen Situation sind bestehende Rechtsbegriffe und Mittel nicht anwendbar. Die erste Frage, die sich jeder stellen sollte, lautet: Ist die Welt, in der ich lebe, eine humane Welt oder ist sie eine Welt, in der das Überleben das einzig gültige Gesetz ist?

Im Stück des Ghetto-Theaters steht die Schauspielerin Chaija vor demselben Dilemma. Sie weiß, dass ihre Flucht den Tod der gesamten Truppe bedeutet und trotzdem flieht sie, um ihr Leben zu retten. Am Ende des Stücks werden die Schauspieler von einem Nazi-Offizier hingerichtet. Im letzten Bild liegen sie tot auf der Bühne. Im Hintergrund ist Chaijas Lied zu hören. In der von den Nazis erschaffenen Realität war der Tod der Preis, den man fürs Leben zahlte. Die Ewigkeit von Chaijas Lied wurde mit dem Leben der Schauspieler erkauft.”

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