Eva Mozes Kor

Auschwitzüberlebende des Holocaust, Verfechterin der Vergebung

“Der NS-Arzt Josef Mengele wählte meine Schwester und mich für seine Experimente aus. Nur deshalb haben wir überlebt. Mengele hatte Auschwitz zur Spielwiese für seine Menschenversuche gemacht. Besonders eineiige Zwillinge interessierten ihn, da er im Bereich der Genetik forschte. In seinen Augen würde das Menschenideal der Nazis von seinen genetischen Forschungen profitieren, wenn sogenannte arische Frauen mit Sicherheit Zwillinge gebären könnten, die alle blond und blauäugig waren. Damit wäre die Zukunft des NS-Regimes gesichert.

An drei Tagen in der Woche wurden wir im Konzentrations- und Vernichtungslager Birkenau, das drei Kilometer von Auschwitz entfernt lag, an einen Ort gebracht, den ich das „Blutlabor“ nenne. Dort nahmen sie uns Blut ab, dort bekamen wir Injektionen für Mengeles Experimente.  Die restlichen drei Tage verbrachten wir im Block 10 von Auschwitz. Dort mussten wir nackt vor ihnen sitzen, während sie jeden Zentimeter unseres Körpers maßen und mit Diagrammen verglichen.

Nach einer dieser Injektionen wurde ich todkrank. „Schade“, lachte Mengele. „Sie ist noch so jung und hat nur noch zwei Wochen zu leben.“ Ich freue mich, sein Experiment verdorben zu haben. Ich überlebte und habe schließlich auch meine Zwillingsschwester Miriam wieder getroffen.”

 

Warum haben Sie nie nach Rache getrachtet?

Rache führt zu neuen Opfern. Ich wollte niemanden verletzen. Es verleiht mir keine Genugtuung, einem anderen Menschen zu schaden. Wir hätten uns an Leuten gerächt, die nichts getan haben. An den Kindern von Tätern. An Familienangehörigen von Tätern. Was für eine Botschaft ist das? Was um alles in der Welt will man damit erreichen? Auge um Auge, Zahn um Zahn? Ich denke nicht, dass wir uns ausgerechnet dieses Kapitel der Bibel merken sollten. Ich wollte nie jemandem schaden. Ich hoffe, dass die Überlebenden, die wütend auf mich sind, eines Tages begreifen, dass ich mich weder ändern noch erneut als Opfer leiden werde, nur weil sie ein Problem mit meinen Ansichten haben. Ich betrachte mich als siegreiche Überlebende. Um zu überleben, musste ich siegen.

 

Woher nehmen Sie die Kraft, Mengele zu vergeben?

Als ich merkte, dass ich die Kraft hatte, Mengele zu vergeben, war es mir wichtiger, dass ich selbst über Mengele Macht hatte. Mir war klar, dass ich es ihm nicht persönlich gesagt hatte. Vielleicht hätte das auch gar nicht  gut funktioniert. Er hätte mich bestimmt denunziert. Vergebung kann im Privaten, in den eigenen vier Wänden geschehen, solange man seine Gedanken aufschreibt und in einer Schublade aufbewahrt. Was, wenn der Täter einen mit Gleichgültigkeit behandelt? Das würde dem Opfer nicht helfen. So kann ich mich als Siegerin fühlen. So bin ich frei, kann mein Leben genießen und die Person sein, die ich immer hätte sein sollen. Ein Mensch ohne Wut. Wut ist ein sehr unangenehmes Gefühl und bringt nichts Gutes.

 

Warum ist Vergebung Ihrer Meinung nach so wichtig? Warum stört es manche Menschen, dass Sie den Mut zur Vergebung gehabt haben? 

„Weil Vergebung die Luft für die Überlebenden reinigt. Wer vergibt, muss sich nicht ständig mit dem Schmerz und den bösen Erinnerungen auseinandersetzen. Man kann nicht weitermachen und sich gleichzeitig ständig an all die fürchterlichen Ereignisse erinnern. Wer sich ständig an all die schrecklichen Dinge erinnert, fügt sich Schmerz zu und wird wütend sein. So, nun habe ich das also klargestellt. Wer vergeben kann, hat Macht über sein oder ihr Leben. Wir müssen erkennen, dass wir nicht mehr hilflos sind. Das ist wichtig.

Ich glaube nicht, dass ich noch in Auschwitz hätte vergeben können. Es gibt zwei Dinge, an denen ich festhalte – an der Fähigkeit, zu überleben und an der Fähigkeit, Schwierigkeiten zu überwinden. Ich spreche vom ‚Schlachtfeld des Lebens‘. In dem Moment, wo alle darauf aus sind, mich zu töten, kann ich nicht vergeben. In so einer Situation versuche ich, zu überleben. Der Kampf ums Überleben ist nicht der Moment der Vergebung. Das ist nicht miteinander vereinbar. An erster Stelle steht das Überleben. Es muss erst eine gewisse Zeit vergehen, bevor ich nach meinem Kampf ums Überleben vergeben kann. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verstreichen muss. Das können Wissenschaftler untersuchen.

Sie wollen es nicht verstehen. Sie sind sehr verschlossen und wollen nicht begreifen, dass das Opfer, nachdem die Gefahr vorüber ist, Rechte hat. Das hindert das Opfer nicht daran, sich zu erinnern. Jedes Opfer erinnert sich. Ich spreche von einem Erinnern ohne Leid. Sie mögen denken, wenn sie leiden, sollen auch alle anderen leiden. Ich kann nicht verstehen, warum andere Opfer auch leiden müssen, nur weil ich leide. Warum viele so denken? Das ist eine gute Frage. Ich erinnere mich, aber ich leide nicht. Wir haben schließlich überlebt, um das Leben zu genießen. Wir haben ein Recht darauf, unser Leben zu genießen. Damit verrate ich das Angedenken an Menschen nicht, die mir nahegestanden haben. Ich erinnere mich an sie. Ich ehre und würdige sie. In den Köpfen der meisten Menschen muss eine Tragödie immer als Tragödie in Erinnerung bleiben. Eine Tragödie kann als ein Ereignis erinnert werden, das passiert ist, als ein trauriges Ereignis. Aber es muss nicht die gesamte Erinnerung mit Wut und Rache überziehen.

Wir Menschen sollten uns mit diesen Gedankengängen auseinandersetzen. Alle wollen Vergeltung. Das ist der Grund für unsere vielen Probleme. Ich für meinen Teil habe mein Leben den Gesprächen über meine Erfahrungen gewidmet. Ich spreche von Vergebung, von den Rechten der Opfer. Ich habe Mitleid mit denen, die leiden wollen, aber das ist natürlich ihr gutes Recht. Ich wünsche mir allerdings, dass die leidenden Opfer mir nicht das Recht auf Vergebung und ein schmerzfreies Leben absprechen.“

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