Michael Sidko

Der letzte Überlebende des Massakers von Babi Yar

“Innerhalb von zwei Tagen, vom 29. bis 30. September 1941, ermordeten deutsche NS-Truppen und ihre ukrainischen Komplizen 33.771 Juden. Unter den Ermordeten befanden sich mein kleiner Bruder Volodya, meine kleine Schwester Clara und meine Mutter. Ich erinnere mich an jedes grausame Detail, obwohl ich damals gerade einmal sechs Jahre alt gewesen war. Ich wünschte, es wäre anders, aber die Bilder, die Geräusche und der Geruch von Schießpulver verfolgen mich bis heute.

Die Nazis schleusten uns durch einen Kontrollpunkt. Dort nahmen sie uns unsere Dokumente, unseren Schmuck und alles, was wir sonst noch hatten. Dann begann die Selektion. Die gesunden Männer wurden zur Zwangsarbeit, Frauen und Kinder an zwei verschiedene Orte geschickt. Der Rest, ob alt oder jung, ging zu einer riesigen Todesgrube.

Meine Mutter hielt meinen kleinen Bruder Volodya. Er war gerade mal vier Monate alt. Neben ihr ging meine Schwester Clara, die dreieinhalb Jahre alt war. Sie war wie versteinert vor Angst und hielt sich am Rockzipfel meiner Mutter l fest. Ein ukrainischer Kollaborateur riss Clara mit Gewalt von meiner Mutter los und ermordete sie kaltblütig. Er schlug ihr auf den Kopf und trat ihr so lange auf die Brust, bis sie erstickte. Meine Mutter, die alles mit ansah, konnte es nicht ertragen und verlor das Bewusstsein. Mein kleiner Bruder fiel auf den Boden und wurde von demselben Kollaborateur ermordet. Als meine Mutter wieder zu Bewusstsein kam und begriff, dass zwei ihrer Kinder ermordet worden waren, begann sie vor Entsetzen zu schreien. Es dauerte nicht lange, bis derselbe Kollaborateur sie erschoss. Alle drei wurden an den Beinen gepackt und in die Grube geworfen.

Ich schrie, als ich sah, wie meine Familie abgeschlachtet wurde. Mein großer Bruder Grisha stellte sich vor mich in der Hoffnung, mir den grausamen Anblick zu ersparen. Vergeblich. Noch heute sehe ich all das vor mir.”

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