Zippora Singer

Auschwitz-Überlebende des Holocaust

“1941, bevor uns der Krieg erreichte, waren wir eine glückliche Familie. Wir wussten, wer Hitler war, konnten uns das Unheil aber nicht vorstellen, das er über uns bringen würde. Ich bin die einzige Überlebende meiner Familie. Ich sah, wie sich polnische Freunde schlimm und unmenschlich verhielten. Andere Menschen wiederum, deren Leben von ihrem letzten Stück Brot abhing, teilten es mit anderen. Was die Nazis mir und meinem Volk angetan haben, werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Aber als optimistischer Mensch fühle mich verpflichtet, zwei Lektionen zu teilen, die ich damals gelernt habe: Es ist unsere Pflicht, Völkern und Menschen in Not zu helfen. Und selbst in den Tiefen des Bösen findet man Menschlichkeit.

Klaus Himmelstoss ist mein Beweis.

Himmelstoss war als Wehrmachtsoldat in unserer besetzten Stadt im Einsatz. Er nahm mich zur Arbeit mit in sein Haus, das zu einer Klinik umfunktioniert worden war. Er erzählte mir, dass er der NSDAP nur beigetreten sei, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Seine Frau Friedel würde nie glauben, was er in den besetzten Gebieten mache. Das sagte er mir mehr als einmal. Er war der Einzige, der wusste, dass ich Deutsch sprach. Er ließ mich den Gesprächen der Soldaten zuhören und Informationen sammeln. Kurz bevor er ging, nahm er mich mit zum Kommandanten der Gendarmerie und bat ihn um die Rettung meiner Familie, wenn es so weit wäre.

Als die SS die Juden der Stadt zusammentrieb, sah ich den Kommandanten. Ich erinnerte ihn an die Bitte. Er ließ uns gehen, während andere Familien wie wir, bei denen der Vater bereits ermordet worden war, Minuten später erschossen wurden. Damit begann die Zeit im Ghetto. Meine Mutter, meine Schwester, meine zwei Brüder und ich teilten uns ein kleines Zimmer mit einer anderen Familie. Ein paar Monate später tauchte Himmelstoss wieder auf. Auf dem Weg von Russland in den Heimaturlaub nach Deutschland hatte er von einer bevorstehenden zweiten „Aktion“ gehört. Er beschloss, einen Zwischenstopp in Iwie einzulegen. Er gab mir eine Zyanid-Tablette für eine Zeit, in der ich lieber sterben als weiterleben wolle. Er sagte, er schäme sich, Deutscher zu sein und bat mich dann, mir seine Adresse in München zu merken. Ich sollte ihm versprechen, dass ich seiner Frau schreiben würde, falls ich überleben sollte. Dafür habe ich fünfzehn Jahre gebraucht. Sie antwortete umgehend. Mein Brief sei „das Erfreulichste, was sie in diesem Jahr bekommen haben“. Dem Brief lag eine Zeichnung meiner Kindheitsstadt bei, die bis heute in meinem Haus hängt.

Wenngleich diese Geschichte nicht unsere schreckliche Tragödie widerspiegelt, bekam ich kurze Zeit später eine weitere Chance. Nach der Abreise von Himmelstoss wurden alle Juden der Stadt zur Zwangsarbeit deportiert. Der Chefingenieur der Firma, für die wir arbeiteten, machte mich zum Dienstmädchen seiner Frau. Wie sich bald herausstellen sollte, war eine Freundin seiner Frau einst mein Kindermädchen gewesen. Diese Entdeckung veränderte die Haltung des Ingenieurs mir gegenüber, was am schwierigsten Tag meines Lebens eine bedeutende Rolle spielen sollte. Mit einem Viehwaggon sollten wir zu unser „neuen Arbeit“ nach Sobibor fahren. Meine Mutter Rivka und meine kleine Schwester Rachel wurden vorausgeschickt, während ich auf dem Bahnsteig auf mein Schicksal wartete. Als mich der Ingenieur sah, sagte er: „Wie Ratten haben sie meine Juden im Gas erstickt.“ Ich begriff, dass Mutter und Schwester tot waren. Völlig schockiert überlegte ich, wie meine Brüder und ich diesem Schicksal entkommen können.

Ich bat den Lokführer, mich und meine Brüder in seinem schicken Waggon sitzen zu lassen. Es war das Abteil vor den Waggons, mit denen die Juden nach Majdanek gebracht wurden. Er ging darauf ein und ich lief los, um meine Brüder zu holen. Da klammerten sich zwei junge Mädchen an mich und ließen mich gar nicht wieder los. Ich verlor kostbare Zeit. Alle waren bereits im Zug, so dass ich an diesem Tag auch meine beiden Brüder, Elimelech und Haim Leib, verlor. Die Mädchen und ich wurden später von einigen SS-Männern im Abteil entdeckt, worauf der Lokführer den Zug anhielt und uns befahl, auszusteigen. Er gab drei Schüsse ab, um die SS glauben zu machen, dass er uns erschossen hatte. In Wirklichkeit hatte er in die Luft geschossen und mir eine weitere Überlebenschance gegeben.

Ich meldete mich bei der nächsten Polizeistelle, kam in ein Arbeitslager und anschließend nach Tschenstochau, wo ich dem Vorsitzenden des Judenrats von den Gaskammern berichtete. Auf der Hochzeit meiner Enkelin erfuhr ich, dass der Großvater des Bräutigams gleich nach meiner Ankunft dank dieser Information aus dem Ghetto geflohen war.

Als die Kanonen der Alliierten näher rückten, wurde ich nach Bergen-Belsen geschickt. Ich erinnere mich an einen deutschen Soldaten, der mich mit seinem Stiefel umdrehte. So schwach war ich. „Dein Tag ist gekommen, Schwarze“, sagte er. Ich ballte meine Fäuste und dachte, da liegst du falsch, ich werde leben. Ich wollte nicht glauben, dass das Böse die Welt regieren wird. An diesem schrecklichen Ort begegnete ich Haim Shinesinger, einem polnischen Juden, der der britischen Armee zugeteilt worden war. Einsam und mittellos heirateten wir an meinem 23. Geburtstag. Wir zogen nach Schottland, wo unsere geliebte Tochter Liora geboren wurde und kamen 1961 nach Israel. Trotz der schrecklichen Dinge, die ich durchmachen musste, trotz des Verlusts, den ich seit fast achtzig Jahren jeden Tag empfinde und obwohl ich den Tod gesehen und gerochen habe, blicke ich glücklich auf meine drei Enkel und fünf Urenkel. Sie sind mein Sieg.”

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