Yaffa Englard

Holocaustüberlebende, Ghetto Sambor 

“Ich wurde in Sambor in Polen geboren, in der heutigen Ukraine. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatten meine Eltern mehr Angst vor den russischen Streitkräften als vor den Deutschen. Was um alles in der Welt kann uns schon unter der Herrschaft einer Kulturnation passieren, hatten meine Eltern gedachten. Die Deutschen haben Goethe, Beethoven und Kant hervorgebracht.

Aktionen, Gaskammern und Krematorien – das hatte sich damals niemand vorstellen können.

Das Leben im Ghetto von Sambor war hart. Unerträglich wurde es, als die Deutschen mit den Aktionen begannen. Ich erinnere mich noch, wie ich mich bei einer der Aktionen im Keller versteckte und durch einen Riss in der Wand sah, wie die Deutschen meine Großeltern gewaltsam fortführten. Meine Mutter hatte sehr schnell verstanden, was uns erwarten würde, wenn wir erwischt würden. Sie hatte einen Plan B: Selbstmord durch das Schlucken von Quecksilber. Sie hatte ein paar Fieberthermometer aufgetrieben, zerbrochen und bewahrte das Quecksilber in zwei winzigen Schachteln auf. Diese Kügelchen wollten wir in den nächsten Tagen schlucken.

Vor der Auflösung des Ghettos fanden wir ein Versteck auf dem Dachboden des Bahnhofs von Sambor. Der Bahnhof wurde von einem rechtschaffenen Polen betrieben. Dort versteckten wir uns vierzehn Monate lang zusammen mit einigen anderen Familien, bis wir das Kommen der russischen Streitkräfte hörten. In dem Versuch, die Russen aufzuhalten, hatten die Deutschen die gesamte Station vermint. Das verwandelte unser Versteck in ein Pulverfass, das demnächst zu explodieren drohte. Wir beschlossen, um unser Leben zu rennen. Wir hatten keine andere Wahl. In einer Scheune in der Nähe fanden wir Unterschlupf, wurden aber bald von einem deutschen Soldaten entdeckt, der uns ins Hauptquartier führte. Zum Glück sprach meine Mutter fließend Deutsch und ich war von Natur aus blond. So gelang es uns, die Beamten davon zu überzeugen, dass wir polnische Flüchtlinge waren. Als mich einer der deutschen Soldaten im Militärstützpunkt auf seinen Schoß nahm, mir eine Tafel Schokolade gab und von seiner Tochter erzählte, die er fast drei Jahre nicht gesehen hatte, hatte ich Mitleid mit ihm.

Wenn ich meine Geschichte erzähle, höre ich immer, dass meine Mutter und ich der lebende Beweis dafür sind, dass Wunder geschehen. Aber ich glaube nicht an Wunder.

Wo waren die Wunder, als meinen anderen Familienmitgliedern schlimme Dinge widerfahren sind? Ich denke, das sind alles Schiebetüren.

Es war Kismet – Schicksal-, dass Mutter und ich die Quecksilberkügelchen nicht nehmen mussten.”

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